Hinterwäldler, so werden wir manchmal genannt, Provinzler, Landeier. Ich gebe zu: Von Deutschlands Großstädten aus gesehen liegt das Weserbergland nicht nur hinterm Wald, sondern auch hinter Mittelgebirgszügen wie dem Ith, dem Hils, dem Solling oder dem Vogler*. Und die sind alle über 400 Meter hoch, sodass das Weserbergland von außen nicht mal einfach so eingesehen werden kann. Hinter den sieben Bergen … ihr wisst schon.
Die größten Städte hier sind Minden und Hameln – groß heißt in diesem Fall übrigens zwischen 50.000 und 80.000 Einwohner (wobei die umliegenden Orte eingemeindet sind und zur Einwohnerzahl der Stadt beitragen). Für Menschen aus Hannover, Hamburg, dem Ruhrgebiet oder Berlin firmieren sie damit in der Kategorie Fliegenschiss.
Weser- statt Autobahnanschluss
Da sich das Weserbergland ganz schön lang hinzieht – nämlich von Hannoversch Münden bis hin zu Porta Westfalica – und die Städte nicht gerade groß sind, gibt es zwischen den Städten Landschaft. Viel Landschaft. In dem Teil des Weserberglands, in dem ich lebe, befindet sich nicht mal eine Autobahn. Man muss schon eine Stunde fahren (okay, Schnelle schaffen es in 45 Minuten), um bis zur nächsten Autobahnanschlussstelle zu kommen – zum Teil über haarnadelkurvige Landstraßen, die sich durch die Höhenzüge schlängeln.

Verflixte Demografie
Demografisch ist dieser Teil des Weserberglands ebenfalls ganz schön abgehängt. Laut Prognos-Zukunftatlas 2016 liegt beispielsweise der Landkreis, in dem ich wohne, im Bereich Demografie auf Rang 385 von 402 Landkreisen in Deutschland (das heißt er verliert mehr Menschen als hinzuziehen und zurück bleiben vor allem die Älteren). In Zukunft werden womöglich noch weniger Menschen hier leben. Eine weitere Prognose sieht für diese Region nämlich einen Bevölkerungsrückgang von etwa 12 % in den Jahren zwischen 2012 bis 2030 voraus. Es scheint also, als gäbe es künftig noch mehr Landschaft in dieser Gegend.

Eine Region zum Leben
Ganz ehrlich? Ich versteh das nicht. Denn in meinen Augen ist das Weserbergland eine völlig unterschätzte Gegend:
- Die Immobilienpreise und Mieten sind niedrig – und das Angebot übersteigt in vielen Orten die Nachfrage. Das macht etwa ein Studium in den Städten Höxter, Holzminden, Hameln oder Minden durchaus attraktiv. Zumal auch die Unis und Fachhochschulen klein und überschaubar sind, was den Kontakt zu den Lehrenden erleichtert.
- Es gibt zahllose Freizeitmöglichkeiten, angefangen vom Kanufahren auf der Weser übers Mountainbiking, Wandern, Pilgern, Klettern im Ith bis hin zum Gleitschirm- oder Segelfliegen oder Skilanglauf im Winter. Nicht zu vergessen auch die unzähligen, nicht überlaufenen Badeseen (Schwimmbäder haben wir natürlich ebenfalls). Auch in der Weser kann man wieder schwimmen, ohne Hautausschlag zu bekommen – allerdings sollte man dann auch wirklich schwimmen können.

- Das kulturelle Angebot ist groß. Clubkonzerte, Theateraufführungen, Poetry Slams, Rudelsingen, kostenlose Musical-Aufführungen (z. B. Rats), Märchen- und Sagenfestspiele, Mittelaltermärkte, LARPs finden (fast) immer und überall statt. Okay, manchmal muss man dafür etwas weiter fahren …

- Apropos fahren: Hannover oder Göttingen sind von fast allen Orten im Weserbergland in einer Stunde Autofahrt zu erreichen, falls man mal mehr Kultur braucht.
- Am allerschönsten jedoch ist die Landschaft. Im Naturpark Solling-Vogler etwa gibt es sanfte Berghänge genauso wie steile Hänge, Moore und mit Wiesen bewachsene Täler. Durchs Wesertal schlängelt sich die Oberweser zum Teil durch neu angelegte Auenwälder und vorbei an Felshängen. In den Weserarmen kann man mit Glück sogar Eisvögel beobachten. Rote Milane, die auf der Roten Liste der gefährdeten Brutvögel in Deutschland stehen, sind sogar ohne Glück zu sehen, genauso wie Silber- und Graureiher und oft auch Störche. In der Rühler Schweiz wachsen – ähnlich wie im Alten Land – jede Menge Kirsch- und andere Obstbäume. Im Ith gibt es Höhlen, von denen manche wie die Rothesteinhöhle vermutlich in der Bronzezeit als Opferstätte genutzt wurden.

- Wer sie mag, für den ist auch die Stille ein Grund, im Weserbergland zu wohnen – sofern nicht gerade Motorräder, Motorboote, Landmaschinen, Sägen oder Rasenmäher sie stören.
- In wolkenlosen Nächten lassen sich gut Sterne beobachten, denn es gibt im Weserbergland noch zahlreiche Inseln der Dunkelheit, in die die Lichtverschmutzung nur wenig Einzug gefunden hat.
Der morbide Charme des Weserberglands
Was ich am Weserbergland zudem besonders schätze, ist, dass es ein wenig aus der Zeit gefallen scheint. Es gibt hier noch Ecken, die nicht auf Teufel komm raus schicksaniert wurden. Und es gibt Orte, die vielleicht auf den ersten Blick nicht schön scheinen, auf den zweiten jedoch einen (wenngleich manchmal etwas morbiden) Charme entwickeln. Meine Kollegin Alice Scheerer nennt die Besichtigung solcher Orte auch Zeitkapseltourismus. Zeitkapseln findet man im Weserbergland zuhauf.

Und wie sieht es mit der Arbeit im Weserbergland aus? Gar nicht so schlecht. Die Arbeitslosenquote liegt in einigen Kreisen zwar etwas über der deutschlandweiten Quote, doch suchen nicht wenige Unternehmen in der Region händeringend Arbeitskräfte (<- die Demografie, ihr wisst schon). Und für Kreative, die ortsungebunden arbeiten können, müsste das Weserbergland eigentlich ein Paradies sein (jedenfalls wenn man die vorab beschriebenen Vorzüge dieser unterschätzten Gegend mag).

Mehr für mich
Ach wisst ihr was? Bleibt lieber alle weg. Ich glaube, ich bin ganz froh, dass das Weserbergland aus der Zeit gefallen scheint. Dass Schicki und Micki hier nur an wenigen Orten zuhause sind. Dass ich aus der Haustür gehen kann und – wenn ich will – beim Spazierengehen niemandem begegnen muss. Dass ich am Fluss sitzen darf, ohne zwei Meter von mir entfernt auf den nächsten Erholungssuchenden zu stoßen. Dass ich verwunschene Ecken entdecken kann, die nicht sofort von anderen vereinnahmt werden. Dass ich hier leben darf. Dafür dürft ihr mich auch gerne Hinterwäldler nennen.
* Genau genommen gehören diese Höhenzüge natürlich zum Weserbergland dazu.
Was für ein wunderbarer Text, liebe Simone! Ich weiß nicht, ob ich danach auf Dauer wegbleiben kann, wie du es dir zum Schluss wünschst, obwohl ich persönlich ein totaler Großstadtmensch (geworden) bin.
Wenn du nicht wegbleiben kannst, besuch mich doch einfach! Ich freu mich auf dich.
Liebe Simone,
für mich war das Weserbergland bisher nur verknüpft mit einer Freundin meiner Mutter, die von dort kommt und uns ab und zu besucht hat. Aber jetzt kann ich mir vorstellen, wie es dort aussieht und wie es sich anfühlt, dort zu leben. Klingt gut. Aber ob ich es könnte …
Vielleicht magst auch du mal herkommen? Dann kannst du es dir vielleicht besser vorstellen 😉
Sehr schön mit viel Herz beschrieben…
Da, wo andere gern Urlaub machen würden…
Ich habs öfters besucht, von Hannover ist es ja nicht allzuweit 😉
Danke dir! Nee, von Hannover isses echt nicht weit.
Schön dass du diese wunderbare Landschaft mal zum Thema gemacht hast. Bevor ich 1986 nach Kassel zog, lebte ich, geboren in den 60ern, 26 Jahre in und um Bad Oeynhausen, die Weser und das Bergland in der Nachbarschaft.
Hach ja. Damals, gelle 🙂 ?
Genau! Sehr schöne Gegend! Für mich fast ein „Heimspiel“. Ist schon toll, wenn man so nah da wohnen kann, wo andere zum Urlaubmachen erst lange anreisen müssen.
Liebe Grüße aus dem Solling!